Orte der Gedenkstelen in Berlin-Wedding
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Vergangenheit vergeht nicht

Im Rahmen der Gedenkstelen-Ausstellung „Wege des Erinnerns“ in Berlin-Wedding erzählen Sun-Ju Choi und Kimiko Suda von widerständigen Frauen, die sich gegen das Vergessen stellen. Im Zentrum stehen die Koreanische Frauengruppe in Deutschland e. V. und die AG „Trostfrauen“ vom Koreaverband – sie kämpfen für Sichtbarkeit, Gerechtigkeit und das Recht, selbst zu sprechen. Ihr Engagement zeigt: Vergangenheit vergeht nicht.

Wir erinnern uns: Was erinnert wird, ist zumeist nicht das, was passiert ist. Das Geschehene wird durch das individuelle wie kollektive Erinnern rekonstruiert, geformt und zum Vorschein gebracht. Die Erinnerung passt sich an einen bestimmten Zweck und eine gesellschaftliche Situation an und hängt eng mit dem Erzählwillen und der Erzählfähigkeit der erzählenden Person zusammen. Was also aus der Vergangenheit erinnert wird und was nicht, ist davon abhängig, von wem und wozu die Geschichte(n) in welcher Situation eingesetzt wird (werden). Woran, von wem und wie erinnert wird, ist stets veränderbar und unterliegt einer beständigen Reflexion und Verhandlung über das Vergangene.
In dem vorliegenden Text stellen wir beispielhaft einige Gruppen und Persönlichkeiten vor, die an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kultur und Politik an Erzählkonstruktionen arbeiten und somit fortwährend intergenerationelle und transnationale Erinnerungsarbeiten leisten.

Die ausgewählten Personen sind Frauen; Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Vor allem sind es Frauen, die unbequem sind. Sie ergreifen ungefragt das Wort, widersprechen, mischen sich ein und machen auf Unrecht und Unterdrückung aufmerksam – auf vergangene wie aktuelle. Und auf unterschiedliche Weisen. Insbesondere dort, wo sie nicht vorgesehen sind. Kurz: Sie sind Verbündete.
Die AG „Trostfrauen“ vom Koreaverband e. V. kämpft seit Jahren für den Erhalt der Friedensstatue Ari in Berlin.

Durch ihre Arbeit erinnert sie an die sexualisierte Gewalt an Frauen, die durch das japanische Militär im Zweiten Weltkrieg verübt wurde. Damit macht sie auch auf sexualisierte Gewalt gegen Menschen im Krieg und in bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt aufmerksam. Die Friedensstatue Ari ist daher nicht nur für Koreaner*innen und deren Nachkommen in Deutschland ein wichtiges Symbol. Ihre Präsenz fordert alle auf, sämtlicher Kriegsopfer zu gedenken. Ari verbindet staaten- und generationsübergreifend Menschen aus verschiedenen Netzwerken in ihren Kämpfen für Gerechtigkeit. Sie erinnert uns an die Geschichten, die oftmals übergangen und unsichtbar gemacht wurden und werden.

Auch die Koreanische Frauengruppe in Deutschland e. V. reiht sich in die Tradition der widerständigen Personen ein, die sich dem ihnen zugewiesenen Platz verweigern. Die Gruppe wurde 1978 von Koreanerinnen gegründet, die überwiegend in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland kamen, um als Krankenschwestern zu arbeiten.

Ein wichtiger Impuls für die Gründung der Gruppe war die 1977 erfolgreich durchgeführte Unterschriftenaktion gegen die Zwangsrückkehr und für das Bleiberecht der koreanischen Krankenschwestern. Zu dieser Zeit wurde koreanischen Krankenschwestern, die zuvor aufgrund des Pflegenotstandes nach Deutschland geholt wurden, die Verlängerung ihrer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen von den deutschen Behörden verweigert.
Die Gruppe kämpfte unter anderem auch für die Demokratisierung Koreas, für die Rechte der Arbeiterinnen in Südkorea und für die Anerkennung des Unrechts an den sogenannten Trostfrauen durch das japanische Militär im Zweiten Weltkrieg. Als Gruppe insistieren sie auf das Recht, für sich selbst zu sprechen und Position zu beziehen.
Nikita Dhawan, María do Mar Castro Varela sind Lehrende und Forschende. In ihren Werken und Schriften begleiten und kommentieren sie u. a. sozialhistorische Entwicklungen sowie Globalisierungs- und Dekolonisierungsprozesse. Oftmals setzen sie sich dem offiziellen Diskurs entgegen und produzieren Gegenentwürfe zu gängigen, nationalen Narrativen.

Gemeinsam verfassten sie das Buch „Postkoloniale Theorie – eine kritische Einführung“, das erstmalig einen systematisch angelegten Überblick zu Postkolonialismus in deutscher Sprache und für den deutschen Kontext anbot.

Die Künstlerin und Filmemacherin Hito Steyerl steht für eine machtkritische, transdisziplinäre Praxis, die über klassische Grenzziehungen zwischen Kunst, Theorie und Aktivismus hinausgeht. Ihr Werk ist ein bedeutender Beitrag zur Dekolonisierung des Denkens und Sehens im digitalen Zeitalter. Sie zeigt, wie digitale Technologien physische und soziale Räume neu ordnen, wie sie Zugang, Sichtbarkeit und Teilhabe strukturieren – oder eben verwehren. Sie lässt sich nicht vereinnahmen und positioniert sich bewusst außerhalb gängiger politischer Strömungen. Ihre Ablehnung des Bundesverdienstkreuzes im Jahr 2021 ist Ausdruck dieser Haltung.

Das Raumeinnehmen, Artikulieren und Sichtbarwerden – gerade dort, wo sie nicht vorgesehen sind – sind Akte des zivilen Engagements und Widerstands. Es sind Handlungen, die die eigene Präsenz in der Gegenwart markieren und unterstreichen. Diese Praxis des unerbetenen Sprechens und des Insistierens – unter Bezugnahme auf die Vergangenheit – ist ein wirkmächtiges Mittel, um die Kämpfe von Marginalisierten zu bewahren und weiterzuführen.

Mit ihren Arbeiten knüpfen alle Frauen an die Praxis der Erinnerungs- und Dokumentationspraktiken von Schwarzen Feministinnen an, die auf die Erzähllücken hinweisen, die durch hegemoniale Erinnerungsrituale und Archive entstehen und fortbestehen. Diese Lücken zu schließen bzw. zu verringern und Gegenerzählungen aus der Perspektive von Marginalisierten entgegenzusetzen, bedeutet u.a. auch eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Oder wie es Hito Steyerl kurz und prägnant formuliert: „History matters“. Vergangenheit vergeht nicht. Weil wir uns erinnern.

Der Text entstand im Rahmen einer Kooperationsausstellung der Galerie Wedding und dem Team Erinnerungsort Kolonialismus am Stadtmuseum Berlin.

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