/ 
Eva Kemlein mit Kamera, Berlin, zwischen 1945 und 1951 (Ausschnitt)
© Stadtmuseum Berlin | unbekannter Fotograf

Eva Kemlein

Als Grenzgängerin zwischen Ost und West wurde Eva Kemlein zu einer der bedeutendsten Fotografinnen der Nachkriegszeit. Ihre Bilder dokumentieren die Trümmerstadt, den beginnenden Nachkriegsalltag und das Theaterleben an den Berliner Bühnen im Osten und im Westen.

von Dr. Martina Weinland

Am 4. August 1909 wird Eva Ernestine als jüngstes von drei Kindern des jüdischen Kaufmanns Albert Graupe und seiner Frau Gertrud in Berlin-Charlottenburg geboren. Der Vater, der als Getreidegroßhändler und Bankier ein Geschäft in der Dorotheenstraße betreibt, fördert ihre Entwicklung und ermöglicht ihr eine gute Schulausbildung. Tatsächlich ist Eva vielseitig interessiert, allerdings nicht an der Schule, sodass sie das Mädchengymnasium in der Sybelstraße vorzeitig verlässt.

Erst später holt sie den Schulabschluss nach und absolviert in der Folge eine Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Assistentin an der Lette-Schule, wo sie auch die technisch-wissenschaftliche Fotografie erlernt. 1929 erhält sie für ihr erfolgreich abgeschlossenes Examen das Prüfungszeugnis, unterschrieben von der Direktorin der Photographischen Lehranstalt des Lette-Vereins, Marie Kundt.

Schatten über einem unbeschwerten Leben

Anfang der 1930er Jahre lernt Eva auf einer Reise durch Italien den Journalisten Herbert Kemlein kennen. Der unternehmungslustige Freiberufler ist vom revolutionären Geist beseelt, und seine unangepasste Lebensweise beeindruckt sie sehr. Aus gelegentlichen Treffen wird eine Beziehung. Anfänglichen Bedenken von Evas Vater zum Trotz heiratet das Paar im Frühjahr 1933. Bald darauf unternehmen Herbert und Eva Kemlein eine mehrmonatige Reise nach Griechenland: Mit dem Motorrad geht es über den Balkan nach Athen, wo sich die beiden niederlassen. Unter südlicher Sonne führen sie ein sorgenfreies Leben. Eva macht Fotos für Reisereportagen, Herbert schreibt fürs Feuilleton deutscher Zeitungen.

Doch auch fern von Deutschland wirft das inzwischen herrschende NS-Regime dunkle Schatten. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wird Eva zur Zielscheibe antisemitischer Diskriminierung. Ihre Honorare werden nicht mehr ausgezahlt, sondern auf Sperrkonten überwiesen. Sie erhält Berufsverbot. Ihr Mann gilt wegen seiner so genannten „Mischehe“ als belastet.
Aus Uniformen wird neue Kleidung, Spandau, 1945
© Stadtmuseum Berlin | Foto: Eva Kemlein

Unter dem Druck der NS-Verfolgung entschließen sich Eva und Herbert 1935 zur Scheidung – ein rein formaler Akt. Von anderen in Athen lebenden Deutschen wissen die NS-Machthaber jedoch sehr genau, dass das Paar weiterhin zusammenlebt – in „Rassenschande“, wie es im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten hieß. Nur durch Gelegenheitsarbeiten, Verpfändung von Habseligkeiten und von Evas inzwischen verwitweter Mutter erhalten die beiden etwas Geld. 1937 werden sie völlig unerwartet aus Griechenland ausgewiesen. Binnen 24 Stunden müssen sie ihre Wahlheimat verlassen und nach Berlin zurückkehren. Dort trennt sich Herbert von Eva.

Untergrund und Widerstand

Evas Kemleins Brüder sind nach Südamerika ausgewandert, aber die Mutter, eine Ur-Berlinerin, will die Heimatstadt nicht verlassen. Das einstige Vermögen ist zum größten Teil beschlagnahmt. So arbeitet Eva erst bei Siemens, dann bei einem Lumpenhändler, um wenigstens etwas Geld zu verdienen.
Album mit Erinnerungsstücken aus dem Leben in der Illegalität von Eva Kemlein mit Ausweisen, Fotos, Anschlagzetteln und Notizen
© Stadtmuseum Berlin

Der nationalsozialistische Druck auf die verfolgten Minderheiten nimmt indessen weiter zu. Jüdinnen und Juden werden zunehmend isoliert, und auch Eva und ihre Mutter müssen in der Öffentlichkeit den Judenstern tragen. Als Eva 1942 eines Tages nach Hause kommt, ist die Mutter fort – deportiert. Als sie selbst die Aufforderung zum Transport in ein Sammellager erhält, geht sie mit ihrem neuen Lebensgefährten in den Untergrund: Werner Stein, ein 21 Jahre älterer Schauspieler, Regisseur und Autor, der ebenfalls jüdischer Herkunft ist und sich als Sozialist und Antifaschist gegen das Unterdrückungsregime einsetzt.

Aus Stahlhelmen werden Kochtöpfe, 1945
© Stadtmuseum Berlin | Foto: Eva Kemlein
Mit Werner Stein flüchtet Eva Kemlein zu Freund:innen, wechselt mehr als 30 Mal das Versteck. Tagsüber sind sie zusammen unterwegs, entgehen mehrmals knapp der Entdeckung. Dessen ungeachtet gelingt es Werner mit zwei bulgarischen Student:innen eine Widerstandszelle zu organisieren, die mit Evas Hilfe Flugblätter herstellt und verbreitet. Nach fast drei Jahren endet das Leben im Untergrund erst Ende April 1945 mit der Befreiung durch die Rote Armee aus einem Schöneberger Kellerversteck.

Grenzgängerin der Fotografie

Nach Kriegsende bezieht Eva Kemlein eine Wohnung in der Wilmersdorfer Künstlerkolonie am Breitenbachplatz. Eines der wenigen persönlichen Dinge, die ihr im Untergrund geblieben sind, ist ihre Leica-Kamera. Mit ihr macht sie als Mitarbeiterin der ersten Stunde für die neu gegründete Berliner Zeitung Fotos von den Trümmerfrauen, dem Schwarzmarkt, den Berliner Originalen dieser Zeit. Ihre Dunkelkammer ist zunächst ein Kleiderschrank, etwas später ein Zimmer in der Nähe ihrer Wohnung. Mit dem Fahrrad ist sie überall in der Stadt zum Fotografieren unterwegs, und täglich bringt sie die fertig entwickelten Bilder von Wilmersdorf nach Lichtenberg in die Redaktion.

Album mit Erinnerungsstücken aus dem Leben von Eva Kemlein, 1951-54
Die neuen Machthaber in der sowjetischen Besatzungszone verweigern Werner Stein aufgrund seiner jüdischen Herkunft eine führende Rolle beim Wiederaufbau der Kulturszene. Dennoch bleiben er und Eva ihren politischen Überzeugungen treu und der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik verbunden, zumal in der Bundesrepublik einstige Nationalsozialisten in führende Positionen gelangen.
Nach zwei Jahren Festanstellung bei der DDR-Inlands-Nachrichtenagentur kehrt Eva Kemlein zur freiberuflichen Arbeit zurück, um wieder selbst über Themen und Motive entscheiden zu können. In der Berliner Zeitung erscheinen weiterhin ihre Reportagen über den Wiederaufbau der Stadt. Im Auftrag des Berliner Magistrats fotografiert sie zudem 1950 das Berliner Schloss vor der Sprengung.
Junge mit Erstausgabe der Berliner Zeitung vom 21. Mai 1945
© Stadtmuseum Berlin | Foto: Eva Kemlein

Im beginnenden „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West wird Eva zur Wanderin zwischen den Welten. Sie lebt in Westen der Stadt und arbeitet – auch nach dem Mauerbau 1961 – weiter im Osten. Ihre Bilder werden deshalb von den West-Berliner Zeitungen boykottiert, ihre Anträge auf Entschädigung als Verfolgte des NS-Regimes werden abgelehnt. Ihre Honorare erhält sie in Ost-Mark ausbezahlt, sodass sie in Ost-Berlin einkaufen und alle Waren durch die Grenzkontrollen nach West-Berlin bringen muss. 

Berliner Bühnen im Bild

Über ihren Lebensgefährten ist Eva Kemlein eng mit dem Theater verbunden. Bertolt Brechts deutsche Uraufführung von „Mutter Courage“ mit Helene Weigel im Berliner Ensemble beeindruckt sie sehr und markiert den Beginn von ihren 50 Jahren Arbeit als Theaterfotografin – immer ganz nah dran und immer in Schwarz-Weiß.

Mit der Kamera dokumentiert sie fast alle Aufführungen der Ost-Berliner Bühnen. Ab den 1970er Jahren ist sie auch im Westteil der Stadt aktiv und fotografiert herausragende Inszenierungen am Schiller-Theater und an der Schaubühne – von den ersten Proben bis hin zur Premiere. Ihre Liebe zum Theater wird von den Akteur:innen erwidert. Eva Kemlein ist bei Regisseur:innen und Schauspieler:innen gleichermaßen beliebt. Bis 2004 ist sie bei vielen Theaterproben dabei. Am 8. August 2004 stirbt sie kurz vor ihrem 95. Geburtstag in Berlin.

Seit 2004 befindet sich der Nachlass der Fotografin in der Theatersammlung des Stadtmuseums Berlin. Das ausschließliche Nutzungsrecht am fotografischen Nachlass liegt ebenfalls beim Stadtmuseum Berlin. Das Archiv mit mehr als 330.000 Negativen wurde 1993 mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Preußische Seehandlung erworben und 2004 um die bis zum Tod von Eva Kemlein entstandenen weiteren Fotografien ergänzt.