Lise Meitner
Die Physikerin Lise Meitner (1878-1968) gilt als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Trotz der Diskriminierung von Frauen im Wissenschaftsbetrieb und nationalsozialistischer Verfolgung leistete sie – zunächst in Berlin, später in Schweden – einen maßgeblichen Beitrag zur Erforschung der Radioaktivität und zur Entwicklung der Atomphysik.
„Das ist in meinen Augen gerade der große moralische Wert der naturwissenschaftlichen Ausbildung, dass wir lernen müssen, Ehrfurcht vor der Wahrheit zu haben, gleichgültig, ob sie mit unseren Wünschen oder vorgefassten Meinungen übereinstimmt oder nicht.“
Am 7. November 1878 kommt Eise Meitner – später Lise genannt – als drittes von acht Kindern des Rechtsanwalts Dr. Phillip Meitner und seiner Frau Hedwig Meitner (geborene Skovran) in Wien zur Welt. Ungeachtet ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit erziehen die Eltern die Kinder christlich-protestantisch, lassen sie jedoch nicht taufen.
Oft als schüchtern und zurückhaltend beschrieben, begeistert sich Lise von Kindheit an für Literatur, Musik und Naturwissenschaften. Da Mädchen an Gymnasien in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nicht zugelassen sind, kann sie nur eine „Bürgerschule“ besuchen. Zwar legt sie nach dem Schulabschluss zunächst ein Lehrerinnen-Examen im Fach Französisch ab. Dennoch strebt sie weiterhin das Abitur an – trotz vielfältiger Hindernisse, die ihr als Frau in der männlich dominierten Gesellschaft im Weg stehen. Ihr Ziel: ein Studium.
Unterstützt und ermutigt von ihren Eltern, lernt Lise Meitner zwei Jahre lang intensiv und nimmt zudem Privatunterricht. Im Juli 1901 ist es so weit: Das Akademische Gymnasium Wien lässt sie zur Prüfung zu. Mit 22 Jahren hält sie das ersehnte Abiturzeugnis in den Händen. Noch im Herbst desselben Jahres beginnt die Abiturientin ein Studium der Philosophie, Mathematik und Physik an der Universität Wien, wo sich Frauen seit 1897 schrittweise in immer mehr Fachbereichen einschreiben können. 1906 erwirbt sie dort als zweite Frau einen Doktortitel in Physik – der Wissenschaft, mit der sie in den folgenden Jahrzehnten berühmt werden wird.
„Herzlich liebe ich die Physik. Es ist so eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt.“
Mit Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Dahlem 1911 kann Otto Hahn dort eine Forschungsabteilung für Radioaktivität einrichten. Unter verbesserten Arbeitsbedingungen setzen er und Meitner die Erforschung der Radioaktivität fort. Erneut bleibt Meitners Arbeit zunächst unbezahlt. Dies ändert sich erst, als sie 1913 als erste Frau Wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wird.
Der Beginn des „Großen Krieges“ im Sommer 1914 unterbricht ihre gemeinsame Arbeit. Otto Hahn wird zum Deutschen Heer einberufen. In den ersten Monaten dient er in kämpfenden Regimentern an der Westfront, ab 1915 in einer Spezialeinheit für chemische Kriegsführung, wo er an der Entwicklung und Herstellung von Giftgas mitwirkt. Lise Meitner unterstützt die Armee währenddessen als freiwillige Röntgen-Assistentin beim Roten Kreuz an der Ostfront. Obwohl von Hause aus pazifistisch eingestellt, lässt sie sich von der anfangs verbreiteten Kriegsbegeisterung vorübergehend mitreißen. In einem Brief gratuliert sie Hahn im April 1915 zum erstmaligen Kriegseinsatz von Giftgas, der im April 1915 nahe der belgischen Stadt Ypern rund 5.000 Tote und 10.000 Verwundete fordert.
Nach dem Krieg etabliert sich Lise Meitner rasch als eine der führenden europäischen Physikerinnen im Bereich der Kernphysik. 1917/18 isoliert sie zusammen mit Otto Hahn das langlebige Isotop des radioaktiven Elements Protractinium, wofür sie 1924 die silberne Leibniz-Medaille der Preußischen Akademie der Wissenschaften erhält. Ab 1918 leitet sie die Abteilung für Kernphysik am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie. 1922 erwirbt sie als erste Frau in Preußen den Doktortitel in Physik. Damit besitzt sie nun die Lehrbefugnis an der Berliner Universität, wo sie 1926 eine außerordentliche Professur für experimentelle Kernphysik erhält.
Schon 1922 hatte Meitner strahlungslose Elektronen-Emissionen entdeckt, und im weiteren Verlauf der 1920er Jahre leistet sie Pionier-Arbeit bei der Erforschung der Beta- und der Gammastrahlung, die beim Zerfall radioaktiver Elemente entstehen. Sie nimmt an internationalen Tagungen teil und steht in regem Austausch mit namhaften Persönlichkeiten aus der Wissenschaft, darunter die Physiker Albert Einstein (1879-1955) und Max Planck (1858-1947). Auch in den 1930er Jahren forscht sie in enger Zusammenarbeit mit Otto Hahn weiter an radioaktiven Prozessen. 1934 regt sie ihn zu Experimenten mit dem Ziel an, durch Bestrahlung der Atomkerne von Uran – dem schwersten natürlich vorkommenden Element – noch schwerere, so genannte Trans-Urane zu erzeugen.
„Hähnchen, lass mich das machen, von Physik verstehst Du nichts.“
Im Juli 1938 flieht sie über die Niederlande und Dänemark nach Schweden, wobei sie wertvolle wissenschaftliche Manuskripte zurücklassen muss. Im Exil setzt sie ihre Forschungen fort, jedoch unter schwierigeren Bedingungen als zuvor in Deutschland.
In Stockholm arbeitet sie an der Königlichen Technischen Hochschule und am Nobel-Institut für Physik. Dort bleibt sie mit Otto Hahn in Kontakt, der in Deutschland mit seinem Assistenten Fritz Straßmann weiter an der Herstellung von Trans-Uranen forscht. Mit radiochemischen Methoden gelingt ihnen der Nachweis, dass das Uran nicht nur in Trans-Urane zerfällt, sondern auch in leichtere Elemente. Dabei wird Energie freigesetzt. Diese Entdeckung ist eine Sensation, da sie die Vorstellung von Atomkernen grundlegend verändert und die Tür zur Erschließung einer bis dahin unbekannten Energiequelle öffnet: der Atomkraft.
Zu Hahns Entdeckung liefert Lise Meitner im Januar 1939 zusammen mit ihrem Neffen, dem Kernphysiker Otto Robert Frisch (1904-1979), die erste physikalisch-theoretische Erklärung. Im Februar veröffentlicht sie ihre Erkenntnisse im Wissenschaftsjournal „Nature“ und prägt dabei den heute gängigen Begriff „Nuclear Fission“ (Kernspaltung). Die Entdeckung ist ein Meilenstein der Physik mit weitreichenden Folgen – sowohl für die friedliche Energie-Erzeugung als auch für die Entwicklung von Atomwaffen in dem sich anbahnenden 2. Weltkrieg. Doch trotz ihrer bedeutenden Beiträge zur Kernforschung wird Meitner nicht mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Diesen erhält nach Kriegsende 1945 allein Otto Hahn – eine bis heute kontrovers diskutierte und vielfach kritisierte Entscheidung. Auch Straßmann und Frisch bleiben unberücksichtigt.
„Nur die Vergangenheit vergessen und das Unrecht hervorheben, das Deutschland geschieht. Und da ich ja ein Teil der zu verdrängenden Vergangenheit bin, hat Hahn in keinem der Interviews, in dem er über seine Lebensarbeit sprach, unsere langjährige Zusammenarbeit oder auch nur meinen Namen erwähnt.“
In den späten 1950er Jahren wird Berlin noch einmal Schauplatz bedeutender Entwicklungen im Bereich der Kernforschung. In Wannsee wird 1958 der erste „Berliner Experimentier-Reaktor“ (BER I) in Betrieb genommen, 1959 das Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung gegründet. Sowohl Meitner als auch Hahn sind als Ehrengäste dabei. 1960 verlässt Lise Meitner Schweden und zieht zum Neffen Otto Frisch nach Südengland. Obwohl nicht mehr in der Forschung aktiv, setzt sie sich in Vorträgen und Publikationen weiterhin dafür ein, Kernenergie nur zu friedlichen Zwecken zu nutzen. Am 27. Oktober 1968 stirbt sie im Alter von 89 Jahren in Cambridge.
Auszeichnungen, Ehrungen und Anerkennung
Lise Meitner wurde fast 50 Mal für den Nobelpreis nominiert. Allein Max Planck nominierte sie 7 Mal. Albert Einstein bezeichnete sie als „unsere Marie Curie“. Doch den Nobelpreis erhielt sie nie. Stattdessen wurde Lise Meitner für ihre bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der Kernphysik vielfach anderweitig geehrt und ausgezeichnet. Unter anderem – Ironie der Geschichte – mit dem „Otto-Hahn-Preis für Chemie und Physik“ 1955. Ein 1982 erstmals künstlich erzeugtes, radioaktives Element trägt seit 1997 den Namen Meitnerium. Dies markierte zugleich einen Wendepunkt ihrer bisherigen Wahrnehmung und Würdigung: Fortan galt sie nicht mehr bloß als Otto Hahns Mitarbeiterin, sondern zunehmend als eine eigenständige, herausragende Persönlichkeit der Berliner Wissenschaftsgeschichte. So wurde sie in den folgenden Jahrzehnten in der Stadt auf vielfältige Weise gewürdigt.
Seit 1998 verleiht die Berliner Humboldt-Universität jährlich den Lise-Meitner-Preis für herausragende physikalische Abschluss-Arbeiten. Seit 2010 trägt das ehemalige Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie den Namen „Hahn-Meitner-Bau“. 2014 wurden im Ehrenhof der Humboldt-Universität die Bronze-Statuen zum Gedenken an den Physiker Max Planck und den Mediziner Hermann von Helmholtz eine Statue der Physikerin Lise Meitner ergänzt. Im selben Jahr benannte die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften in der Jägerstraße in Berlin-Mitte einen Saal Nach Lise Meitner, um an ihre Wahl als erstes weibliches wissenschaftliches Mitglied 1949 zu erinnern. Seit 2019 nutzt die Lise-Meitner-Schule in Neukölln Meitners Biografie gezielt, um Nachwuchs – insbesondere Mädchen – in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu fördern. Und von 2018 bis 2023 machte ein Dokumentar-Theater an der Freien Universität (FU) Berlin ihr Leben einem breiten Publikum zugänglich.
„Ihre Arbeit ist gekrönt worden mit dem Nobelpreis für Otto Hahn.“